Die neuronale Entwicklung im Kindesalter ist die Basis für alle neuronalen Steuer- und Regulationsprozesse im Erwachsenenalter. Jeder Erfahrung wird abgespeichert und mit neuen Inputs abgeglichen. Je sicherer sich das Gehirn beim Kind entwickelt, desto stabiler ist es beim Erwachsenen. Denn unser Gehirn bildet im Kern dessen, was wir sind.
Die Schulung der Propriozeption, also der Wahrnehmung der Körperposition und -bewegung, hat eine positive Auswirkung auf die neuronale Entwicklung bei Kindern. Denn die Hirnareale die an der Propriozeption beteiligt sind, sind nicht nur für die Bewegungsteuerung zuständig, sondern auch für die emotionale Regulation, das Gedächtnis, die räumliche Orientierung und mehr.
Propriozeptive Reize haben auch Auswirkungen auf die emotionale Regulation bei Kindern. Durch die Aktivierung der propriozeptiven Sinne können Kinder ein Gefühl von Körperbewusstsein, Sicherheit und Stabilität entwickeln. Dies kann dazu beitragen, Stress zu reduzieren, die Selbstregulation zu verbessern und die emotionale Stabilität zu fördern. Diese ist ein komplexer Prozess, der von verschiedenen Hirnarealen beeinflusst wird. Es gibt mehrere Schlüsselregionen im Gehirn, die an der emotionalen Regulation beteiligt sind und über eine gut regulierte Propriozeption, genaue und adäquate efferente Outputs produzieren.
Insula: Die Insula ist eine Hirnregion, die maßgeblich an der Wahrnehmung und Verarbeitung von körperlichen Empfindungen und emotionalen Zuständen beteiligt ist. Sie spielt eine Rolle bei der Integration von emotionalen und körperlichen Signalen, auch Interozeption genannt, und kann die emotionale Regulation unterstützen. Dies umfasst propriozeptive Empfindungen, wie die Wahrnehmung der Körperhaltung, Muskelspannung und Gelenkbewegung. Die Insula kann Informationen aus dem propriozeptiven System integrieren und ein Bewusstsein für die Position und Bewegung des eigenen Körpers schaffen. Die Insula ist auch an der Bildung der Körperrepräsentation beteiligt. Sie hilft dabei, eine kohärente Vorstellung des eigenen Körpers zu bilden und eine genaue räumliche Wahrnehmung der Körperposition und -bewegung zu ermöglichen. Durch die Verarbeitung von propriozeptiven Informationen kann die Insula zur Genauigkeit der Körperrepräsentation beitragen. Die Insula ist in die multisensorische Integration involviert, bei der Informationen aus verschiedenen Sinnessystemen kombiniert werden. Dies kann auch die Integration von propriozeptiven Informationen mit anderen sensorischen Reizen wie visuellen und taktilen Informationen umfassen. Eine gut entwickelte Insula-Funktion könnte die Integration propriozeptiver Informationen mit anderen sensorischen Signalen erleichtern und zu einer umfassenden Körperwahrnehmung beitragen. Aber im Gegenzug kann schlecht integrierte Propriozeption dazu führen, dass die Interozeption und die damit einhergehende emotionale Regulationen zu einem falschen und inadäquaten Output führt.
Präfrontaler Cortex: Der präfrontale Cortex, insbesondere der ventromediale präfrontale Cortex (vmPFC) und der dorsolaterale präfrontale Cortex (dlPFC), spielen eine wichtige Rolle bei der emotionalen Regulation. Der vmPFC ist an der Bewertung emotionaler Reize beteiligt und kann die emotionale Reaktion modulieren. Der dlPFC ist an der kognitiven Kontrolle und der Hemmung von emotionalen Reaktionen beteiligt. Dieser ist auch an der Integration von propriozeptiven Informationen mit anderen sensorischen Informationen beteiligt. Er kann dazu beitragen, dass propriozeptive Signale mit visuellen, taktilen und auditiven Reizen kombiniert werden, um ein umfassendes Bild der Körperposition und -bewegung zu erhalten.
Amygdala: Die Amygdala ist eine Schlüsselstruktur für die Verarbeitung und Bewertung von emotionalen Reizen. Sie spielt eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Angst und Furcht. Bei der emotionalen Regulation interagiert die Amygdala mit anderen Hirnregionen, um die emotionale Reaktion zu modulieren. Auch in der Propriozeption spielt die Amygdala eine große Rolle. Sie bewertet Körperempfindungen, die mit der Propriozeption verbunden sind. Wenn propriozeptive Signale, wie Gelenkspositionen, die das Gehirn nicht kennt, bewertet die Amygdala diese Situation mit Angst oder Unsicherheit und trägt am Output der als Reaktion kreiert wird maßgeblich bei (Sympathikus). Die Amygdala ist auch an der kontextuellen Einbettung von Wahrnehmungen beteiligt. Bei der Propriozeption trägt die Amygdala dazu bei, die propriozeptiven Informationen in den emotionalen und kontextuellen Kontext des Individuums einzubetten. Dies beeinflusst die Bewertung der propriozeptiven Wahrnehmung in Bezug auf Sicherheit oder Gefahr beeinflussen.
Anteriore Cinguläre Rinde (ACC): Die ACC ist an der Überwachung und Kontrolle von Emotionen, Schmerzverarbeitung, Aufmerksamkeit und Konfliktbewältigung beteiligt. Die ACC spielt eine Rolle beim Körperbewusstsein und der Körperrepräsentation. Sie kann dazu beitragen, propriozeptive Informationen zu integrieren und ein Bewusstsein für die Position, Bewegung und den Zustand des eigenen Körpers zu schaffen. Eine gut entwickelte ACC-Funktion könnte zu einem verbesserten Körperbewusstsein und einer präziseren Wahrnehmung von propriozeptiven Empfindungen führen. Außerdem spielt sie eine Schlüsselrolle bei der emotionalen Regulation und kann dazu beitragen, emotionale Reaktionen auf propriozeptive Empfindungen zu modulieren. Sie kann dabei helfen, die emotionale Bedeutung propriozeptiver Reize zu bewerten und bei Bedarf die emotionale Reaktion zu dämpfen oder zu verstärken.
Hippocampus: Ist eine Hirnstruktur, die hauptsächlich mit dem Gedächtnis assoziiert wird, insbesondere mit der Bildung von neuen Erinnerungen und dem räumlichen Gedächtnis. Obwohl der Hippocampus nicht direkt mit der Propriozeption, der Sinneswahrnehmung von Körperposition und -bewegung, in Verbindung gebracht wird, gibt es Hinweise darauf, dass er eine gewisse Beteiligung an diesem Prozess haben könnte. Der Hippocampus spielt eine entscheidende Rolle beim räumlichen Gedächtnis und der Navigation. Er ermöglicht es uns, Informationen über unsere Position im Raum und die Beziehung zu unserer Umgebung zu verarbeiten und zu speichern. Das räumliche Gedächtnis ist eng mit der Propriozeption verbunden, da propriozeptive Signale zur Bestimmung unserer Körperposition und -bewegung im Raum beitragen. Der Hippocampus könnte dazu beitragen, propriozeptive Informationen in das räumliche Gedächtnis einzubinden und so zur präzisen Wahrnehmung der Körperposition beizutragen. Außerdem ist er auch an der Bildung kognitiver Karten beteiligt, die mentale Repräsentationen von Umgebungen und deren räumlichen Merkmalen darstellen. Propriozeptive Informationen, insbesondere über die Position und Bewegung der Gliedmaßen, können bei der Erstellung solcher kognitiven Karten eine Rolle spielen. Der Hippocampus könnte dazu beitragen, propriozeptive Informationen in die Konstruktion dieser mentalen Karten einzubeziehen und so zu einer genaueren räumlichen Wahrnehmung beizutragen.
Wichtig zu verstehen ist dabei, dass je öfter diese Hirnareale durch gezieltes spezifisches propriozeptives Training aktiviert werden desto öfter werden diese durchblutet und mit Nährstoffen, wie Glukose und Sauerstoff, versorgt. So können diese Areale neue neuronale Verbindungen innerhalb ihres Bereichs aber auch interdisziplinär bilden um nicht nur propriozeptive Informationen besser verarbeiten, sondern auch emotionale.
Für die allgemeine Information was Propriozeption ist und welche Auswirkung sie auf die Bewegungssteuerung und sogar auf chronische Schmerzen hat, erfährst du in meinem Blog „Propriozeption: Der sechste Sinn?“
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