In diesem Blogbeitrag werde ich auf die Definition von Propriozeption, auf ihre Spezifität und den Zusammenhang zwischen Propriozeption und chronischen Schmerzen eingehen.
Was ist Propriozeption?
Propriozeption ist ein neurophysiologisches Phänomen, das die Wahrnehmung und das Bewusstsein über die Position, Bewegung und Ausrichtung des Körpers im Raum betrifft. Es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel von sensorischen Informationen, die aus verschiedenen Teilen des Körpers stammen, und der Verarbeitung dieser Informationen im zentralen Nervensystem.
Die Propriozeption beruht auf verschiedenen sensorischen Rezeptoren, die in den Muskeln, Sehnen, Gelenken und der Haut vorhanden sind. Diese Rezeptoren erfassen Informationen wie Muskelspannung, Gelenkwinkel, Druck und Dehnung und senden diese Signale an das zentrale Nervensystem. Die Informationen aus den propriozeptiven Rezeptoren werden im Gehirn verarbeitet und ermöglichen es uns eine genaue dreidimensionale Vorstellung von unserer Position im Raum zu haben, selbst ohne visuelle oder auditive Hinweise. Dies ist besonders wichtig für die Kontrolle von Bewegungen, Gleichgewicht und Körperhaltung. Die genaue neurophysiologische Grundlage der Propriozeption ist noch nicht vollständig verstanden, aber es wird angenommen, dass mehrere Gehirnregionen an der Verarbeitung propriozeptiver Informationen beteiligt sind. Dazu gehören das Kleinhirn, somatosensorische Kortex, der Motorcortex und das Rückenmark. Propriozeption spielt nicht nur eine entscheidende Rolle im bei sportlichen Bewegungen, sondern auch in allen alltäglichen Aktivitäten wie Gehen, Laufen, Greifen und anderen motorischen Fähigkeiten. Sie ermöglicht es uns, unsere Bewegungen präzise zu steuern und anzupassen, um den Anforderungen unserer Umgebung gerecht zu werden.
Die Erforschung der Propriozeption und ihrer Mechanismen ist von großer Bedeutung für die Bereiche der Neurowissenschaften, Rehabilitation, Sportwissenschaften und Robotik. Durch ein besseres Verständnis der Propriozeption können wir möglicherweise neue Ansätze zur Behandlung von Bewegungsstörungen, chronischen Schmerzen oder die Steuerung von Robotern und Prothesen verbessern.
Zusammenspiel von Propriozeption und Kleinhirn
Im Kleinhirn finden die Verarbeitung und Integration von propriozeptiven Informationen statt, die für die Steuerung von Bewegungen und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts wichtig sind.
Sobald propriozeptive Signale von den Rezeptoren in Muskeln, Sehnen, Gelenken und der Haut erfasst werden, werden sie entlang der sensorischen Nervenfasern zum Rückenmark geleitet. Dort werden die Signale zunächst auf kortikospinale Neuronen übertragen, die direkt mit den motorischen Neuronen verbunden sind. Diese Verbindung ermöglicht eine schnelle Anpassung der Muskelaktivität und -spannung als Reaktion auf die propriozeptiven Informationen.
Gleichzeitig gelangen die propriozeptiven Signale über verschiedene Bahnen, wie beispielsweise die spinocerebelläre Traktbahn, zum Kleinhirn. Im Kleinhirn findet die umfassende Verarbeitung der propriozeptiven Informationen statt. Spezifische Kleinhirnkerne und Schaltkreise analysieren und integrieren die empfangenen Signale im "Open Loop" System. Dieses ist in der Lage Bewegung während der Ausführung zu korrigieren.
Das Kleinhirn vergleicht die erwarteten propriozeptiven Signale mit den tatsächlichen propriozeptiven Eingängen und generiert entsprechende Korrektursignale. Diese Signale dienen der Kontrolle und Koordination von Bewegungen und Haltungsanpassungen. Sie ermöglichen eine präzise Steuerung der Muskelaktivität, Kraftentwicklung und Koordination, um eine angemessene Körperhaltung und Bewegungen sicherzustellen.
Die Ausgangssignale des Kleinhirns werden an den Motorcortex und das Rückenmark zurückgesendet. Dadurch moduliert das Kleinhirn die Bewegungsausführung und koordiniert die Muskelaktivität. Es sorgt dafür, dass die Bewegungen flüssig, präzise und an die Anforderungen der Situation angepasst sind. Das Kleinhirn spielt somit eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung propriozeptiver Informationen und der Koordination von Bewegungen. Es bildet eine komplexe Schaltzentrale, die eng mit anderen Hirnregionen interagiert, um eine genaue Wahrnehmung des Körperzustands und eine präzise Steuerung der Bewegungen zu ermöglichen.
Propriozeption ist absolut spezifisch
Die propriozeptiven Signale aus den verschiedenen Gelenken werden separat verarbeitet und ermöglichen es dem Körper, eine präzise Vorstellung von der Position und Bewegung jedes einzelnen Gelenks zu haben. Aufgrund dieser spezifischen Verarbeitung kann das Nervensystem die Muskelaktivität und Gelenkbewegungen koordinieren, um eine angemessene Körperhaltung und Bewegungen zu erreichen. Die gelenksspezifische Propriozeption ist entscheidend für die präzise Steuerung von Bewegungen, die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und die Anpassung an Veränderungen der Körperposition. Sie spielt eine wichtige Rolle in verschiedenen Aktivitäten wie Greifen, Gehen, Laufen und sportlichen Bewegungen.
Propriozeption ist daher nicht, wie es die Sportwissenschaft propagiert, global zu betrachten und mit z.B. instabilen Unterlagen zu trainieren sondern ist von Gelenk zu Gelenk unterschiedlich ausgebildet und koordiniert. Vor allem nach Verletzungen, wie beispielsweise bei einem Kreuzbandriss, werden Rezeptoren in der Haut und in den Muskelspindeln in Mitleidenschaft gezogen. Diese können nach der strukturellen Heilung nicht mehr die Qualität der Signale über die afferenten Nervenfasern senden, wie zuvor. Dadurch ist die entwickelte Propriozeption des Gehirns und der dadurch generierte Output nicht mehr so exakt wie zuvor. Des Weiteren werden durch die reduzierte Bewegung im Gelenk, während der Heilungsphase, das anatomische zugehörige Zentrum im Gehirn verkleinert, neue Bewegungsmuster gespeichert und neue neuronale Pfade gebildet die eine andere Tonusmusterregulierung der Muskulatur rund um das Gelenk bildet.
Propriozeption und die Auswirkung auf chronische Schmerzen
Eine verringerte Gelenkspropriozeption kann Auswirkungen auf chronische Schmerzen haben. Propriozeptive Informationen aus den Gelenken spielen eine wichtige Rolle bei der Regulation der Muskelaktivität und der Koordination von Bewegungen. Wenn die Propriozeption in den Gelenken beeinträchtigt ist, kann dies zu einer veränderten Muskelaktivität, Fehlbelastungen und einer gestörten Bewegungskontrolle führen.
Eine reduzierte Gelenkspropriozeption kann dazu führen, dass die Körperhaltung und Bewegungsmuster ineffizient oder fehlerhaft sind. Dies kann zu übermäßiger Belastung bestimmter Gewebe und Strukturen führen, was wiederum zu Entzündungen, Gewebeschädigungen und chronischen Schmerzen führen kann. Chronische Schmerzen können in den betroffenen Gelenken selbst auftreten oder sich auf andere Bereiche des Körpers ausbreiten.
Darüber hinaus kann eine verminderte Propriozeption auch die Schmerzwahrnehmung beeinflussen. Die Propriozeption hat eine modulierende Wirkung auf das Schmerzempfinden und kann dazu beitragen, Schmerzsignale zu hemmen oder zu modulieren. Wenn die Propriozeption reduziert ist, können Schmerzsignale verstärkt werden und die Schmerzempfindlichkeit erhöht sein. Bertsche E. (2009) beschreibt in seiner Studie eine deutliche Schmerzreduktion mit propriozeptiven Training bei Nackenbeschwerden.
Mit gezielter neuer neuronaler Kartierung der betroffenen Muskulatur (dem Gehirn zeigen wo befindet sich überhaupt meine Zielmuskulatur), verstärkten sensorischen Input über die geschädigten Rezeptoren (Meissner Körperchen Paccini Körperchen usw) und einigen anderen neuroathletischen Interventionen kann die Propriozeption verbessert werden.
Quellen:
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